Im Sommer 1996 gründeten die Diplomsozialpädagogin Gabi Lommers und die Lehrerin Heike Hößelbarth eine Initiative für einen Waldkindergarten in Osnabrück und schlossen sich danach unserem Verein an, der an der Förderung eines solchen Projektes aufgrund seiner allgemeinen umweltpädagogischen Zielsetzung sehr interessiert war. Im Verein wurde eine eigenständige Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die in der Folgezeit mit Veranstaltungen, Aktionen und Presseberichten u. ä. die Initiative für einen Osnabrücker Waldkindergarten bei Eltern und potentiellen Unterstützern bekannt machte und für die Idee intensive Werbung betrieb. Es wurden nutzbare Waldstücke gesucht und gefunden und weitere Voraussetzungen für den Waldkindergarten geschaffen, aber auch der überregionale Erfahrungsaustausch mit anderen Initiativen wahrgenommen. Obwohl die Initiative weitgehend auf positive Resonanz stieß – auch in der zuständigen Verwaltung und Politik, drohte bereits im Sommer 1997 das Aus, weil die Stadt sich nicht in der Lage sah, die notwendigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Der Initiative wurde nahegelegt, sich nach weiteren Trägern und Finanzierungsquellen umzusehen. Nach einer langen Durststrecke für die Initiative und die interessierten Eltern, von denen zwischendurch einige sich für andere Kindergärten entscheiden mußten, gelang es 1999 doch noch, mit der Heilpädagogische Hilfe e. V. einen großen Träger für das Waldkindergarten-Projekt zu gewinnen. Gemeinsam mit diesem Träger wurde nun ein Konzept entwickelt. Zum 1. September 1999 konnte der Waldkindergarten mit Gabi Lommers als Gruppenleiterin und einer zweiten Erzieherin seinen ›Betrieb‹ aufnehmen. Erste positive Erfahrungen konnten von den Beteiligten bereits gesammelt werden. Das (damalige) allgemeine Konzept und seine theoretische Begründung kann man in dem Beitrag von Gabi Lommers, Heike Hößelbarth und Ulrich Jakobj nachlesen. Herr Jakobj ist pädagogischer Leiter der Sprachheilkindergärten der Heilpädagogischen Hilfe e.V.
2005 war ein Umzug innerhalb des Hörner Bruchs notwendig....
Heike Hößelbarth / Gabi Lommers / Ulrich Jacobj
Viele Kinder wachsen heute in einer Umgebung auf, die ihnen wenig Möglichkeiten bietet, sich selbst zu spüren und zu erleben, wie beim Klettern auf Bäume, beim Bauen von Höhlen und Buden, beim Spielen und Toben mit anderen Kindern, beim Rennen und Laufen bis zur Erschöpfung usw.
Die Stadt mit ihrem alle Straßenaktivitäten verdrängenden Autoverkehr stellt für Kinder eine ständige Gefährdung dar. Viele Eltern begegnen dieser Gefahr, indem sie ihre Kinder nicht unbeaufsichtigt auf die Straße lassen bzw. ihre Kinder ausführen.
Spielmöglichkeiten, wie sie noch vor ca. 30-40 Jahren existierten (kleine Wäldchen in der unmittelbaren Wohnumgebung, unbebaute Grundstücke, kaum befahrene Straßen und Plätze usw.), gibt es heute in Ballungsräumen so gut wie gar nicht mehr. Der Erfahrungs- und Spielraum für Kinder wird zusehends eingeengter, und nicht ohne Grund stellen wir fest, daß wir nur noch selten spielende Kinderhorden im Freien sehen, so wie es früher überall üblich war. Kinder verbringen heute schon im Kleinkindalter ihre Zeit vor dem Fernsehgerät, dem Gameboy und Computer. Spielplätze werden dort angelegt, wo noch ein bißchen Platz geblieben ist, und bieten Kindern nur noch die Möglichkeit, mit fest installierten Spielgeräten vorgegeben zu spielen. Variationen und Kreativität, freies, phantasievolles, von Erwachsenen ungestörtes Spiel bleiben dabei oft auf der Strecke.
Gleichzeitig mit der Zerstörung des Spiel- und Bewegungsraums von Kindern beobachten wir in Kindergärten und Schulen die Zunahme von Lernstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Aggressionen, Wahrnehmungsstörungen und Konzentrationsstörungen (vgl. dazu den Film »Das Schwinden der Sinne«). In erschreckender Häufigkeit beobachten wir körperliche Ungeschicklichkeit, Übergewicht, Unfallträchtigkeit, Entwicklungs- und Sprachstörungen, Hyper- und Hypoaktivität, Haltungsschäden, Koordinationsprobleme, Probleme in der räumlichen Orientierung, Abstumpfung der sinnlichen Erlebnisfähigkeit, mangelnde Kreativität, Lese-, Rechtschreib- und Rechenschwächen bzw. -unfähigkeit.
Die Entwicklung des menschlichen Gehirns erfolgt im Wesentlichen über die Bewegungs- und Sinneserfahrungen des Säuglings und Kleinkindes. Wahrnehmung, Bewegung und Lernen stehen in einem Zusammenhang mit den Entwicklungsbedingungen des Kindes.
Durch die Dominanz der Medien wird Kindern heute häufig der unmittelbare Zugang zu natürlichen Lebensvorgängen und Zusammenhängen erschwert. Die Kinder erfahren aus zweiter Hand etwas über die Entwicklung von Pflanzen und Tieren, den Wechsel der Jahreszeiten etc., ohne dies wirklich zu erleben.
Der tägliche Aufenthalt im Wald läßt dagegen eine intensive, liebevolle Beziehung zur Natur wachsen und bietet die Grundlage für die Fertigkeiten, die Kinder benötigen, um sich zu entwickeln und zu lernen.
Die Umgebung, die Kindern die größtmögliche Bewegungsfreiheit und Vielfalt an Sinneserfahrungen und Eindrücken bietet, ist die Natur – und in besonderem Maße der Wald. Hier werden alle Sinne angesprochen, die natürliche Umgebung bietet Raum und Platz für Bewegung ohne Gefährdung und Einschränkung durch den Straßenverkehr und stellt durch ihre natürlichen Hindernisse und Probleme einen hohen Anreiz für Kreativität, Bewegung, Experimente usw. dar.
Kinder, die ihre Fähigkeiten und Grenzen ungestört erfahren können, haben mehr Zugang zu ihrem eigenen Leistungsvermögen und entwickeln ein Gefühl für ihre eigenen Fertigkeiten und Stärken.
Natürliches Interesse, das Gefühl von Spannung und Abenteuer ist vielen Kindern unbekannt. Ein Abstumpfen der Sinne ist häufig die Folge. Der Wald bietet den Kindern große und kleine Abenteuer, deren Bewältigung das Selbstbewußtsein und die Persönlichkeitsentwicklung fördert. Das Fehlen von künstlichen Reizen (Lärm, optische Reize etc.) wirkt erholsam auf die Kinder und fördert eine ruhige und aufmerksame Beschäftigung mit anderen Menschen, Dingen und der Natur. Die Konzentrationsfähigkeit der Kinder wird dadurch gestärkt und gefördert. Die Kinder können ihren natürlichen Bewegungsdrang ohne räumliche Begrenzung ausleben, motorische Sicherheit und Gleichgewicht altersgemäß üben und damit auch ihr seelisches Gleichgewicht finden, anders als Kinder, die die meiste Zeit in räumlicher Enge und Beschränkung ihren spontanen Bewegungsdrang unterdrücken müssen.
Im Wald erlebt das Kind, daß es sich nicht nur in künstlichen Räumen, sondern gerade draußen in der Natur »zu Hause« fühlen kann. Daraus gewinnt es Unabhängigkeit von äußeren Bedingungen und Selbstsicherheit. Ein Waldkind erlebt seine Umwelt unmittelbar mit allen seinen Sinnen. In seinem Tun, in Wechselwirkung mit seiner Umgebung, lernt es so sich selbst als Verursacher kennen. Das unmittelbare – oft ganz körperliche – Tun stärkt das Selbstbewußtsein, lehrt, eigene Kräfte zu erkennen und einzuschätzen, und fördert so die emotionale Stabilität.
Spielen ohne vorgefertigte Spielmaterialien wirkt einem unkritischen Konsumverhalten entgegen. Die Kinder können die ihnen oft vermittelte Abhängigkeit von vorgegebenen Spielmaterialien und -angeboten relativieren und eine eigene Kreativität entwickeln. Der Wald bietet unerschöpfliche Möglichkeiten zum Rollenspiel jeglicher Art, zum Entdecken, Experimentieren, Forschen, Bauen, Werken und schöpferischen Gestalten.
Die Kinder haben im Wald und in der Natur eine Umgebung, in der man Abenteuer erleben, Angst überwinden, eigene Grenzen erfahren und akzeptieren lernt, sowie vielfältige Möglichkeiten zu forschen und zu entdecken. Der Wald bietet die Gelegenheit, schwere Gegenstände zum Bauen und Spielen zu benutzen. Dabei sind sie auf natürliche Art und Weise auf Kooperation angewiesen und erleben Freude und Freundschaft durch die gemeinschaftliche Bewältigung schwieriger Aufgaben. Der Wald bietet viel Raum, um Aggressionen zuzulassen, ohne daß sie sich innerlich aufstauen oder gegen andere richten. Dies sind entscheidende Voraussetzungen für den Erwerb sozialer Kompetenz.
Die Natur ist groß – mehr noch aus der Perspektive des Kindes. Sie hat ihre eigenen Gesetze und ihren eigenen Rhythmus, an den sich die Kinder anpassen müssen. Ein Regelverständnis erwächst so auf ganz natürliche, »begreifbare« Art und Weise. Die Kinder lernen, sich als Teil dieser Natur zu fühlen. Sie lernen, sich selbst ernster zu nehmen, da ihnen nichts in kindgerechten Häppchen serviert wird. Sie lernen Ehrfurcht und Achtung vor Pflanzen, Tieren, der Natur und Umwelt insgesamt. Das »Begreifen« und Kennenlernen des Waldes im Spielen ist die einfachste Form der Umwelterziehung. Die Natur mit ihren Lebewesen und Gegebenheiten mit allen Sinnen zu erfahren und zu erleben, macht Kinder sensibel und vertraut. Dies ist die beste Voraussetzung, um als Erwachsene die Natur zu schützen und sich für diese aktiv einzusetzen.
Im Laufe der Zeit entdecken die Kinder immer mehr schöne Plätze, Bäume, Höhlen, Hügel, Büsche und Lichtungen in »ihrem« Wald. Der Wald wird so zum wohlbekannten Ort, in dem sie sich orientieren können und jedes Kind seine Lieblingsplätze hat. Oft werden diese von den Kindern neu benannt, wie die »Wippe«, der »Kaufladenplatz«, die »Höhle« usw. Das Erschließen eines großen Raumes als Lebensraum fördert die Raumorientierung, vermittelt eine Sicherheit, auf deren Basis die Kinder immer mutiger werden bei der Entdeckung ihrer Welt, im Proben eigener Grenzen.
Die Kinder lernen durch unmittelbares Erleben, Ausprobieren und Forschen. Dabei werden sie von den Erwachsenen unterstützt. Diese stellen auch die notwendigen Materialien, wie Lupen, Lexika, Schaufeln, Netze usw. zur Verfügung. Die Kinder erwerben so durch unmittelbares körperliches und sinnliches Erleben im Spiel ein Basiswissen über die Gesetzmäßigkeiten der Natur. Es ist daher anzunehmen, daß die »Waldkinder« – wegen ihrer gesunden Neugier und weil sie ihr Wissen unmittelbar begreifen lernen durften – beim späteren Schuleintritt gut vorbereitet und motiviert sind, leistungsbereit und leistungsfähig.
Praxie ist die Fähigkeit des bewußten und zielgerichteten Planens und Lenkens von Bewegungsabläufen. Sie setzt ein richtiges Körperschema, das richtige Abschätzen von Entfernungen, Formen und Größenverhältnissen voraus. Das Sichbewegen im großen Raum (Wald) mit Hindernissen, das Hantieren und Bauen in der Natur fördert die Entwicklung kindlicher Handlungs- und Planungsfähigkeit sowie der Raumorientierung, die eine unbedingte Voraussetzung z.B. des Rechnenlernens bzw. des sich Bewegenkönnens im Zahlen »raum« ist. Zum Üben der Praxie werden im Waldkindergarten zusätzlich Kombinationsspiele (z.B. Ballspiele) sowie alte und neue Tanz-, Sing- und Rollenspiele angeboten. Während des durch ErzieherInnen und Kinder gemeinsam strukturierten Tagesablaufs im Waldkindergarten haben die Kinder darüber hinaus jederzeit Gelegenheit, Rollenspiele ausführlich und ohne Unterbrechung zu spielen.
Der Wald bietet immer wieder neue Möglichkeiten, die Kinder auf Farben, Formen und rhythmische Veränderungen in der natürlichen Umgebung aufmerksam zu machen. Ihre Erfahrungen, Gefühle und Erkenntnisse sollen die Kinder auch im Waldkindergarten durch Malen, Gestalten und spielerisches Hantieren umsetzen bzw. zum Ausdruck bringen. Das kann entweder in den Räumen, auf überdachten Plätzen oder im Freien geschehen.
Im täglichen Miteinander und im täglichen Tun wird gezielt Aufmerksamkeit auf die Sprache der Kinder und deren Entwicklung gerichtet. Neben Anderem werden Geschichten und Märchen erzählt und Kinderbücher vorgelesen. Die Kinder lernen Reime und Fingerspiele. Dramatisierungen des Gehörten werden auf der natürlichen Bühne, die der Wald bietet, im täglichen Rollenspiel umgesetzt.
Theoretische Basis für die pädagogische Konzeption des Waldkindergartens bilden umwelterzieherische Aspekte, motopädagogische und sensorische Ansätze sowie entwicklungspsychologische Theorien, die die kindliche Entwicklung als Ganzheit sehen und die wesentliche Bedeutung der Bewegungssicherheit als Basis jeglichen Lernens in den Vordergrund stellen. Der Waldkindergarten bietet sich als integratives Modell an, das auch Kinder betreut, die bereits Entwicklungs-und/oder Verhaltensstörungen zeigen und die – wie oben bereits beschrieben – hier hervorragende natürliche Förderungsmöglichkeiten finden.
Die Elternabende, hier insbesondere zur inhaltlichen Auseinandersetzung, werden in größeren Zeitabständen selbstverständlich angeboten. Zu Beginn eines jeden neuen Waldkindergartenjahres wird für neue Eltern ein Aufklärungsangebot bezüglich Konzept, Kleidung, »natürliche« Gefahren im Wald (Zecken, Fuchsbandwurm etc.) stattfinden. Die vorgenannten Angebote werden durch die Möglichkeit der Hospitation und des Einzelgespräches ergänzt.
Der Hörner Bruch ist von seiner Größe und Beschaffenheit (d.h. Vielfalt von Naturlandschaft, Bodenbeschaffenheit, Gräben, Wasserläufe, Hügel, Unterholz, Kletterbäume usw.) dazu geeignet, über eine mehrjährige Entwicklungszeit der Kinder genügend Anreize und Motivation zu bieten. Er bietet eine Auswahl verschiedener Wegstrecken mit gleichem Ausgangspunkt. Dieses Waldgebiet ist der Mittelpunkt der Naturerfahrung und der pädagogischen Arbeit. Das schließt die Begehung anderer Landschaften nicht aus. Ergänzend werden in Bezug zu den Naturerlebnissen Stadtgebiete, Bauernhöfe, Museen und andere Einrichtungen besucht.
Auf dem Waldstück gibt es für die Kinder eine Schutzhütte und einen Bauwagen. Letzterer ist beheizbar und verfügt über Wasser und Strom. Eine Kompost-Toilette wird vorgehalten. Für extreme Witterung gibt es ein festes Raumangebot: Industriestr. 16, 49082 Osnabrück.
Aufgenommen werden Kinder ab dem 3. Lebensjahr bis zum Schuleintritt. Bei Bedarf besteht die Möglichkeit der Einzelintegration. Der Waldkindergarten umfaßt eine Gruppe mit maximal 15 Kindern.
Die Öffnungszeiten des Waldkindergartens orientieren sich an denen der anderen Kindertagesstätten in Osnabrück. Es wird ein Halbtagsangebot in der Zeit von 8-12 Uhr vorgehalten. Sonderöffnungszeiten (z.B. für berufstätige Eltern) werden nach den generellen Bedingungen der Stadt ermöglicht.
Die Elternbeiträge richten sich nach den ortsüblichen Sätzen. Gleiches gilt für die Sonderöffnungszeiten (pro angebrochene halbe Stunde ein Monatsbeitrag von zusätzlich DM 14,- pro Kind).
Der Bauwagen dient als eine Schutzhütte
Das pädagogische Personal umfasst 2 Fachkräfte. Nach Möglichkeit werden diese durch eine(n) weitere(n) Praktikantin(en) in ihrer täglichen Arbeit unterstützt. Fachberatung und Fortbildung
Die erforderliche Fachberatung der pädagogischen MitarbeiterInnen wird vorgehalten. Die Teilnahme an Fortbildungen und hier insbesondere an umweltpädagogischen Themen wird entsprechend der diesbezüglich bestehenden Dienstvereinbarung der Heilpädagogischen Hilfe Osnabrück gewährleistet. Beirat
Im Beirat sind mit jeweils 1 Person vertreten:
Der Verein für Heilpädagogische Hilfe e.V. Osnabrück ist Träger des Waldkindergartens. Zur Konzepterstellung, -fortschreibung und inhaltlichen Umsetzung besteht zwischen vorgenanntem Träger und dem Verein für Ökologie und Umweltbildung Osnabrück e.V. und der Initiative Waldkindergarten Osnabrück eine Verabredung zur Kooperation.
Hugo Kükelhaus: Mit den Sinnen leben; Transform
Hugo Kükelhaus/Lippe: Entfaltung der Sinne; Fischer
Jean Ayres: Bausteine der kindlichen Entwicklung
Gela Brüggebors: Einführung in die Holistische Sensorische Integration
Britta Holle: Die motorische und perzeptuelle Entwicklung des Kindes