Gerhard Becker
Über das Fernsehen und andere überregionale Medien werden die Bürger fast täglich mit Informationen über Umweltprobleme aus aller Welt versorgt, meistens in Form von Katastrophenmeldungen und -bildern. Zu den öffentlichen Hauptthemenbereichen gehören in unserer konsum- und ökonomisch wachstumsfixierten Gesellschaft die zahlreichen, sich insgesamt gesehen zunehmend verschärfenden Müll- bzw. Abfallprobleme mit den regelmäßigen Skandalen, den politischen Debatten und den inzwischen immerhin vorhandenen, aber weiterhin unzulänglichen Lösungsversuchen. Sicherlich nicht zu Unrecht wird vermutet, daß diese Uberhäufung mit immer neuen, meist aus dem Zusammenhang gerissenen Informationen und Horrorszenarien eher zu ohnmächtiger Resignation und Abstumpfung führt als zu engagierten, aktiven Reaktionen und Verhaltensveränderungen, sei es auf der persönlich-alltagspraktischen Ebene, sei es im politischen Bereich.
Ein praktisches Engagement tut erkennbarer Wirkung ist für breitere Bevölkerungsschichten ja primär auf der lokalen Ebene möglich Ein solches Engagement ist einerseits umweltpolitisch notwendig, weil es sonst die notwendigen Veränderungen nicht wirklich geben wird, andererseits stellt es einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft dar - hier auf der wichtigen lokalen Ebene. Eine solche Perspektive gilt spätestens seit der Agenda 21 der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 als unverzichtbarer Bestandteil einer „nachhaltigen Entwicklung". Dazu bedarf es allerdings auf der lokalen und regionalen Ebene der Kenntnis von Zusammenhängen, Hintergründen und Ursachen sowie der Fälligkeit der interpretierenden Wahrnehmung von Umweltproblemen in der eigenen Alltags- und Lebenswelt, die in großen Teilen der Bevölkerung noch kaum vorhanden sind.
An dieser Stelle sieht die Projektgruppe NUSO (=Natur und Umwelt in der Stadt Osnabrück) und der sie in Kooperation mit der Universität tragende gemeinnützige Verein für Ökologie und Umweltbildung Osnabrück e.V." seit einigen Jahren den Hauptansatzpunkt für seine Arbeit. Wir wollen in kooperativer Form Beiträge zu einem ökologischen und urbanen Bewußtsein in der Stadt Osnabrück leisten. Wir haben dabei in der Vergangenheit aus folgenden Gründen unseren Arbeitsschwerpunkt auf die Geschichte der Natur und Umwelt dieser Stadt gelegt: Erfahrungsgemäß unterliegen die verschiedenen umweltrelevanten Entwicklungen, ja überhaupt die Stadtentwicklung und die mit ihr einhergehenden, zum 'feil gravierenden Veränderungen einem schnellen Prozeß des Vergessens in der Öffentlichkeit, aber auch bei jedem einzelnen Bürger -- soweit er überhaupt bewußt mitvollzogen wurde. Außerdem stellt sich immer wieder heraus, daß aktuelle Umweltprobleme ohne die Kenntnis ihrer eigenen Geschichte weder zu verstehen noch einer angemessenen Lösung zuzuführen sind, die der spezifischen lokalen Situation und den Interessen und Wünschen der betroffenen Bürger gerecht wird. Besonders deutlich wird dies an dem Thema dieser Veröffentlichung, das in Osnabrück von höchster Brisanz ist: Der ehemalige Steinbruch Piesberg, der als — zunächst umstrittene — Mülldeponie der Osnabrücker Müllpolitik und dem Konsumverhalten seiner Bürger lediglich eine 20jährige Verschnaufpause verschaff) hat.
Der Stadtteil Wüste, der sich jüngst als größte bewohnte Altlastenverdachtsfläche in Deutschland herausgestellt hat: Hier holt die längst vergessene Müllgeschichte diese Stadt und seine Bürger mit noch nicht absehbaren und möglicherweise brutalen Folgen ein. Die geschichtlichen Erkenntnisse, die in diesem Fall im Rahmen eines Gutachtens von NUSO erhoben wurden, werden hier sogar zu einem Instrument der anstehenden naturwissenschaftlichen Großuntersuchung (s. S. 122 ff.1).
Die aktuellen und spektakulären Themen sind freilich nur zu verstehen als Ergebnis einer längeren Vorgeschichte des Abfalls in dieser Stadt, die in wesentlichen Zügen hiermit vorgestellt werden soll Als Hauptquelle diente den NUSO-Mitarbeiter(inne)n Günter Terhalle und Ute Vergin neben lokalhistorischer Literatur unser umweltgeschichtliches Zeitungsarchiv, das zur Zeit ca. 11.000 Artikel und 4000 Bilder umfaßt bzw. über eine Datenbank nachweist. Ca 1100 Artikel wurden für dieses Thema ausgewertet und haben zu einer lebendigen Darstellung dieses Teils der Umweltgeschichte geführt.
Freilich muß man die vorgelegte Rekonstruktion zunächst einmal als eine Geschichte der öffentlichen Problemwahrnehmung, Diskussion und Konfliktaustragung im Spiegel der Presse und Lokalgeschichtsschreibung sehen, die naturgemäß subjektive Bewertungen enthalten muß. Im Einzelfall mag die Darstellung bei einer genaueren Nachprüfung sich vielleicht als „verzerrt" erweisen. Uns kommt es in jedem Fall darauf an, daß die Leser oder Nutzer unserer Texte (z. B. auch Schulklassen) bei ihrer Beschäftigung mit lokalen stadtökologischen Themen angeregt werden, über Probleme kritisch nachzudenken, kontrovers darüber zu diskutieren, schließlich eine vielleicht geänderte, eigene Position und Wahrnehmung der eigenen Umwelt gegenüber zu entwickeln und ggf auch eigene vertiefende Studien zu betreiben, die vielleicht zu anderen Ergebnissen kommen. Dem Abriß eines Teils der Osnabrücker Umweltgeschichte wurde von Ute Vergin in ihrer „Kleinen Müllgeschichte" ein spannender Überblick über Müllsituationen in verschiedenen historischen Epochen vorangestellt. Damit sollen in keinem Weise die heutigen Umweltprobleme mit dem Argument relativiert und verharmlost werden, daß es offensichtlich schon immer gravierende Müllprobleme gegeben hat, die die Menschheit doch offensichtlich überlebt hat .. Interessant sind gerade die Unterschiedlichkeiten der Probleme, die soziokulturell differenzierten Wahrnehmungs- und Umgangsweisen und schließlich die gravierenden Umbrüche in Qualität und Quantität des Abfalls in jüngster Zeit.
Mit dieser Veröffentlichung, die wir schon bald in einer überarbeiteten Form und Gestaltung herausbringen wollen, setzen wir eine bereits vor Jahren begonnene und bewährte Arbeit fort, 1991 erschien unser 300seitiges Buch „Stadtentwicklung im gesellschaftlichen Konfliktfeld -- Naturgeschichte von Osnabrück", in dem NUSO sich umweltgeschichtlich mit dein Wallring. der Hase, dem Westerberg und anderen Themen beschäftigte. Parallel dazu präsentierten wir der Osnabrücker Öffentlichkeit eine Ausstellung zu den gleichen Themen, die bis Anfang 1993 im Museum am Schölerberg zu sehen war Weil die NUSO-Projektgruppe in nächster Zeit weitere Themen bearbeiten wird, haben wir uns als Verein entschlossen, eine unregelmäßig erscheinende Reihe „Dokumente und Materialien zur Osnabrücker Stadtökologie" herauszugeben, die auch offen für Autoren und Gruppen außerhalb von NUSO sein soll. Wie in vergangenen Jahren richtet sich unsere Arbeit nicht nur allgemein an die Osnabrücker Öffentlichkeit, sondern hat sich vor allem zum Ziel gesetzt, Umweltbildung in den Bildungseinrichtungen, insbesondere in den Schulen auf breiter Basis und zu wichtigen lokalen und regionalen Themen zu unterstützen. Deshalb erscheint diese erste Auflage anläßlich der von uns durchgeführten Lehrerfortbildungsveranstaltung am 21./22.2.1995. Die Unterstützung interessierter Lehrer(innen) und Schulen soll u.a. durch umfassende „didaktischen Materialien" zu den von uns erarbeiteten Themen geschehen, zu denen als Hintergrundmaterial zum Selbststudium auch die Veröffentlichungen der geplanten Reihe dienen. Die Themen orientieren sich in ihrer didaktischen Bearbeitung auch an den vom Nds. Kultusministerium herausgegebenen „Empfehlungen zur Umweltbildung in allgemeinbildenden Schulen. Global denken — lokal handeln".
Dem Auffinden und didaktischen Erschließen von außerschulischen Lernorten in Osnabrück kommt bei unserer Unterstützungstätigkeit besondere Bedeutung zu. Für das vorliegende Thema seien beispielsweise folgende Lernorte genannt: Im Stadtteil Wüste Pappelgraben, Regenrückhaltebecken, Baustelle August-Hölscher-Straße, Grundwassermeßstellen des Bielefelder Umweltinstituts IFUA, Kleingartenanlagen „Deutsche Scholle", Wiese zwischen Limburger Straße und Bahnlinie, städtischer Fuhrpark. In anderen Stadtteilen Wertstoffsammelstellen, Abrißbaustellen (aktuelles Beispiel ehemaliger Schlachthof), ehemalige Deponiegelände, Entsorgungsfirmen, Umweltamt, und natürlich der Piesberg. Zu den Leistungen, die unsere didaktischen Materialien bieten sollen, gehören auch themenbezogene und didaktische Literaturhinweise, Adressen u.ä. Ein kleiner Anfang in dieser Richtung wurde dazu im Anhang (Sachbezogene Literaturlisten und Müll-Didaktik) dieses Heftes gemacht.
Im Rahmen der z.Z. anlaufenden, systematischen Zusammenarbeit mit Osnabrükker Schulen sollen auf dieser Basis mittel- und längerfristig gemeinsam mit interessierten Lehrer(inne)n und Student(inn)en adressatenspezifische Unterrichtsmaterialien entwickelt und mit Schulklassen erprobt werden_ Diese Materialien werden entweder als „didaktischer Anhang" zu den Titeln der oben erwähnten Reihe dienen oder als eigenständige VerölTentlichungen ausgearbeitet werden, die auch Praxiserfahrungen einbeziehen können. Die umweltpädagogische Bedeutung unserer Arbeit erweist sich vor allem dann, wenn Schulen beginnen, sich stärker den unmittelbaren Fragen des Lebens der Schüler und Bürger und damit auch der eigenen Umwelt vor Ort zu stellen, insbesondere im jeweiligen Stadtteil. Diese „Öffnung" genannte Neuorientierung der Schulen (und anderer Bildungseinrichtungen) ist von hoher bildungspolitischer Aktualität und wird insbesondere vom nds. Kultusministerium stark gefördert. Der stadtökologisch — im weitesten Sinne verstanden — ausgerichtete Ansatz der Arbeit von NUSO hat inzwischen modellartige Bedeutung weit über Osnabrück hinaus gewonnen; deshalb erhalten wir zur Zeit Unterstützung durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt, die zusammen mit anderen Förderern uns und den mit uns kooperierenden Schulen und Gruppen große Chancen der Entfaltung eines Reformansatzes bietet. Er wird nur dann mit Erfolg durchgeführt werden können, wenn eine Kooperation all derjenigen Personen, Gruppen und Institutionen gelingt, die mit Umwelt und Umweltbildung zu tun haben.
An dieser Stelle möchte ich als Projektleiter und Vorsitzender des „Vereins für Ökologie und Umweltbildung" all denjenigen danken, die uns in letzter Zeit in verschiedener Form unterstützt haben und die sich darum bemühen, daß unsere Arbeit längerfristig fortgesetzt werden kann. Auf der institutionellen Ebene gilt unser Dank vor allein der Universität, dein Arbeitsamt, der Stadt Osnabrück, dem Landschaftsverband und der Deutschen Bundesstiftung Umwelt.